Stationen einer geistlichen Lebensreise

Arne Kopfermann

Dies ist keine Streitschrift. Keine Austrittserklärung. Kein Versuch, mit meiner Vergangenheit abzurechnen. Keine Kampfansage an ehemalige Weggefährten. Es ist nicht der Versuch, pfingstlerisch-charismatische Frömmigkeit gleichzuschalten oder zu behaupten, alle Christen, die sich zu dieser Glaubensrichtung zählen, würden zwingend alle Überzeugungen oder Missstände teilen, die ich auf den nächsten Seiten kritisch beleuchten werde. Vielmehr ist es zuallererst der zaghafte Versuch, einen ehrlichen Einblick in Prozesse meiner Biographie zu geben. Denn von manchen Leitsätzen und Verhaltensformeln muss man sich im Laufe seines geistlichen Lebens trennen. Sie können wie Schuhe sein, aus denen man mit der Zeit herausgewachsen ist, auch wenn sie noch im Regal stehen. Sie passen nicht mehr, sind ausgetreten oder mittlerweile nicht mehr schön anzusehen. Sie gehörten eine ganze Weile zu uns. Und wenn wir sie wieder überstreifen, hinterlassen sie beim Tragen Blasen.

Mitte der 80er Jahre konnte man relativ schnell umreißen, was die Charismatiker (und Pfingstler) von den Evangelikalen unterschied. Die Charismatiker betonten, wie der Name schon sagt, die Gnadengaben des Heiligen Geistes und die damit verbundene und bis ins Körperliche erfahrbare Gegenwart Gottes und sein übernatürliches Wirken. Sie hatten eine ausgeprägte Glaubenstheologie. Und darüber hinaus „Worship“, diese seit Ende der 60er Jahre in Neuseeland mitbegründete und dann in den frühen 70er Jahren durch die Jesus People Bewegung an der Westküste der USA groß werdende Gebetsliederkultur, die allen voran von „Jugend mit einer Mission“ in den deutschsprachigen Raum gebracht wurde. Und die dann durch erste zarte Pflänzchen in Deutschland und die amerikanischen Musiklabel Vineyard Music und Integrity Music neue Facetten bekam. Sie betonten, dass Gott nahbar ist und im Lobpreis seines Volkes wohnt. Dass man sich folglich der Nähe und Aufmerksamkeit von Jesus gewiss sein kann, wenn Lobpreis und Anbetung als Haltung das alltägliche Leben prägen. Und dass der Worship damit sozusagen zum Türöffner wird für das übernatürliche Eingreifen Gottes. 

In Folge dessen wurden charismatische Veranstaltungen wie Heilungsgottesdienste oder Zusammenkünfte mit Segnungsteilen oder sogenannten „Ministry Times“ (in denen der Weitergabe von prophetischen Eindrücken viel Raum gegeben wurde) oft von durchgehendem Worship begleitet. Die Evangelikalen lehnten diese Form von Anbetung weitgehend ab und warnten wie schon Ihre geistlichen Väter vor geistlicher Schwärmerei ohne Bodenhaftung. Vor einem allzu selbstbezogenen Glaubensvollzug, der den eigenen Erfahrungen und persönlichen Offenbarungen zu viel Bedeutung zumisst.

Nun, seit den 80er Jahren ist viel passiert. Worship ist keine nahezu exklusive Domäne pfingstlerisch-charismatischer Prägung mehr. Am Anfang vor allem deshalb, weil viele Evangelikale hippere und zeitgemäßere Musik für Ihre Veranstaltungen suchten. Aber auch, weil sich Viele nach einer unmittelbareren Form der Gottesbegegnung sehnten. Und auch, wenn Prophetie in vielen evangelikalen Kreisen lieber „Hören auf die Stimme Gottes“ genannt wird, hat sie dort über die letzten Jahrzehnte doch viel stärkeren Einzug gehalten. Auch für körperliche Heilung beten Evangelikale vielfach offensiver als noch vor wenigen Jahren, wenn geliebte Menschen erkranken. An der Praxis dieser geistlichen Handlungen kann man also die Unterschiede evangelikaler und pfingstlerisch-charismatischer Frömmigkeit nicht mehr festmachen. Es sind dagegen die inneren Leitsätze und Haltungen, die sich oft unterscheiden.

Ich bin als Kind der charismatischen Bewegung groß geworden. Mein Vater Wolfram Kopfermann, ein begnadeter Prediger, Bibellehrer und Intellektueller, leitete zwischen 1977 und 1987 den Koordinierungsausschuss der Geistlichen Gemeinde Erneuerung innerhalb der evangelischen Landeskirche, lud in dieser Funktion zu Themen wie „Heilung“ und „Evangelisation in der Kraft des heiligen Geistes“ prägende Prediger-Persönlichkeiten wie John Wimber oder Colin Urqhart zu Kongressen nach Deutschland ein und gestaltete an der Hamburger Hauptkirche St. Petri charismatische Gottesdienste, die ein rasantes Wachstum verzeichneten – in wenigen Jahren wuchs die Besucherzahl auf über 1.000 Leute an. Über 80 Hauskreise, eine Jugendarbeit mit mehr als 150 Mitgliedern und Grundkurse des Glaubens mit enormen Zuspruch von Gemeindefernen sind nur einige Merkmale einer geistlichen Bewegung, die es bis auf die Titelseiten in den einschlägigen Gazetten dieses Landes brachte, polarisierte und gleichzeitig im gesamten deutschsprachigen Raum Sympathisanten und Nachahmer fand. Inmitten dieses aufregenden geistlichen Aufbruches bekehrte ich mich im Alter von 12 Jahren im „Kopfermanden“-Unterricht, dem Konfirmanden-Unterricht meines Vaters und brachte mich schnell voll Leidenschaft ins Gemeindeleben ein. Mit 14 übernahm ich Verantwortung als Jugend-, Teestuben- und Lobpreisleiter (und lernte schon damals meine Frau kennen). Gottesdienste und Frühgebete unter der Woche, die Mitarbeit bei Bibelstunden und Grundkursen des Glaubens und ungezählte Aktivitäten in der Jugendarbeit füllten leicht 4-5 Nachmittage/ Abende meiner Woche. Fast müßig zu erwähnen, dass Themen des Gemeindelebens damals einen Großteil unserer Mittagessensgespräche in der Familie prägten. Hinzu kamen Wochenend-Tagungen, Kongresse und Jugendfreizeiten in fast allen Ferien eines Jahres. Auch ein so genannter „persönlicher Austauschpartner“ wollte im Wochenplan noch untergebracht werden. Gitarre spielen und Fußball (aktiv und passiv) hatten da fast schon zu wenig Raum für einen normalen heranwachsenden Jugendlichen. Auch war ich – wie viele meiner Peers in der St. Petri Kirche – stolz darauf, fast ausschließlich Musik mit frommen Texten zu hören und die einschlägigen Konzerte zu besuchen, die in unserer Stadt stattfanden. Kein Wunder, dass die Schule bei all dem geistlichen Programm öfter schon mal hinten runterfiel. Zumal ich in dem Elite Gymnasium, das ich besuchte, schnell zum Außenseiter wurde. Zu wenig entsprach ich, was Kleidung, Statussymbole, Interessen, Musikgeschmack und nicht zuletzt auch Sexualethik anging, dem Verhaltenskodex meiner Mitschüler. Da war es mir nicht unlieb, in unserer Kirche eine Community zu finden, die sich über weite Strecken selbst genügte, auch wenn immer wieder der Aufruf erfolgte, der Kirche fernstehende Menschen mitzubringen. Dort fand ich gleichgesinnte Gleichaltrige, Warmherzigkeit und Freundschaft, eine ehrliche Sehnsucht nach Gott und der Begegnung mit ihm, Musik, die ich liebte und den Stolz, Teil eines geistlichen Aufbruchs zu sein, der buchstäblich das Leben von Tausenden von Menschen prägte und veränderte.

1988 trat mein Vater aus der Landeskirche aus und gründete die charismatisch freikirchliche Anskar Kirche. Ein Paukenschlag, nicht nur in der christlichen Welt allgemein, sondern auch für all die Mitglieder von St. Petri, die durch meinen Dad ermutigt worden waren, an eine Erneuerung der Kirche zu glauben und diesen Schritt nur schwer nachvollziehen konnten. Die Folge war ein klassischer Gemeinde-Split, in dessen Folge sich der größere Teil Anskar anschloss. Ich hatte nach meinem Abitur gerade ein soziales Jahr bei dem charismatischen Missionswerk „Projektion J“ in Hochheim absolviert, das eng mit der geistlichen Gemeinde Erneuerung in der Landeskirche verbunden war, und wurde direkt im Anschluss musikalischer Leiter der nun neu gegründeten Anskar Kirche mit Minijob. Studierte nebenbei für ein Semester Theologie an der Universität Hamburg, bevor ich das Studium abbrach, weil ich mir eine Zukunft als Prediger mit Talar und Bäffchen nicht mehr vorstellen konnte. Stattdessen besuchte ich für drei Monate verschiedene Vineyard Gemeinden in den USA, um mir über meine Zukunft und Berufung klar zu werden, schrieb ein erstes Buch über Lobpreispraxis im Anskar Eigenverlag, veröffentlichte meine erste CD und absolvierte mein Grundstudium in Soziologie. Ich verbrachte ein halbes Jahr mit Anja auf einer Jüngerschaftsschule von Jugend mit einer Mission auf Hawaii und in Japan, heiratete und leistete danach meinen Zivildienst in der Heimstätte einer Pfingstgemeinde, während ich zeitgleich jüngster „Ältester“ in der Anskar-Kirche war. Ich studierte im Anschluss ein Jahr am Anskar Kolleg Theologie. Und wurde dann in erster Reihe Zeuge einer weiteren Gemeindekrise, die sich an der von der Gemeindeleitung ausgerufenen „Naherwartung einer Erweckung“, verbunden mit dem Plan, eine „Erweckungs-Halle“ mit 2.000 Sitzplätzen zu bauen, entzündete. An Erweckungswochen mit allabendlichen Zusammenkünften und der eingeforderten Selbstverpflichtung zu einem radikalen Lebensstil. Für soziales Leben neben der Gemeinde blieb nicht nur für die Hauptamtlichen kaum noch Zeit. Wir hatten damals neben meinem Vater als Hauptpastor noch einen Gemeindepastor, der in hirtlicher Verantwortung einige der daraus resultierenden Missstände anmahnte. Am Ende dieses schmerzlichen Prozesses von divergierenden Ansichten stand ein weiterer Gemeinde-Split, in dessen Folge er mit einigen Dutzend Austrittswilligen die erste Hamburger Vineyard-Gemeinde gegründete. Die „Erweckungs-Halle“ wurde nie gebaut.

Anja und ich spürten in dieser Phase, dass uns eine Luftveränderung guttun würde: nicht zuletzt auch deswegen, um für eine Weile aus dem „geistlichen Schatten“ meines Vaters zu treten und auf eigenen Beinen zu stehen. So zogen wir 1995 ins Rhein Main Gebiet mit der Aussicht, dort die nächsten 3 Jahre zu verbringen – und wurden für die nächsten 23 Jahre aktiver und mitgestaltender Teil einer größeren charismatischen Gemeinde im Rhein-Main Gebiet. Als Lobpreismusiker und -Referent reiste ich fortan aber auch durch den deutschsprachigen Raum und wurde von den unterschiedlichsten Kirchen und Prägungen eingeladen. Nach einem Studium der Soziologie mit Schwerpunkt Medien in Frankfurt und einem kurzen Popstudiengang in Hamburg übernahm ich von 1999 bis 2011 die Rolle als Musikverantwortlicher für Pop & Lobpreis national wie international bei dem christlichen Verlagshaus Gerth Medien, um mich danach als christlicher Musiker und Produzent selbständig zu machen.

2014 im September kam aus heiterem Himmel der schmerzhafteste Einschnitt unseres bisherigen Lebens. Bei einem Autounfall verloren wir unsere 10-jährige Tochter Sara. Nach der Kollision mit einem Taxi war unsere Kleine wahrscheinlich sofort tot, auch wenn wir mit Ihr noch zehn Tage und Nächte zwischen Beten und Bangen, Festhalten und Loslassen auf der Intensivstation verbrachten. Tausende von Menschen haben mit uns um ein Wunder gebetet. Aber das Wunder ist ausgeblieben. Man sagt, dass es keine persönlich tragfähige Theologie ohne Einbezug der eigenen Lebensgeschichte geben kann. In unserem Fall ist das sicher richtig. Das Leben meiner ganzen Familie wurde in seinen Grundfesten erschüttert. Wir waren auf die Urgewalt des Schmerzes nicht vorbereitet, der von einem Tag zum anderen in unser Leben trat und – wenn auch in sich verändernder Intensität – seitdem seinen festen Platz einfordert. Es ist sicherlich nicht übertrieben zu behaupten, dass Saras Tod alles auf den Prüfstand stellte. Auch wenn Anja und ich von der ersten Sekunde an wussten, dass sie an dem Ort, wo sie jetzt war, gut aufgehoben ist. Aber unser Beruf, unsere Prioritäten, unser Zusammenleben, unser Gottesbild und die zugehörigen Leitsätze, die wir uns für unser Leben zu eigen gemacht hatten, mussten jetzt erst einmal den Beweis antreten, dass sie im Angesicht der Trauer nicht zerbröseln wie Sand im Wind. Schnell wurde mir klar, dass es zu mir gehört, diesen Prozess in Liedern und Texten öffentlich zu machen. Seitdem kann ich die persönlichen Geschichten nicht mehr zählen, die mir Menschen oft unter Tränen zugeflüstert oder geschrieben haben. 

Ein Schritt auf unserem geistlichen Weg, den Anja und ich glücklicherweise gemeinsam vollziehen wollten, war das Verlassen unserer langjährigen Gemeinde. Es war wie mit den eingangs beschriebenen Schuhen, aus denen wir herausgewachsen sind. Wir mussten auch äußerlich neue Wege gehen und erleben es heute als großen Segen, eine neue geistliche Heimat gefunden zu haben, die zu uns und unseren teilweise im Erleben von persönlichem Leid neu oder stärker gewonnenen Überzeugungen passt. Ich möchte im verbleibenden Teil dieses Artikels einmal fünf aus einer Vielzahl von Aspekten herausheben, die schon seit geraumer Zeit nicht oder nicht mehr zu mir passen und die zumindest in meinem Erleben vielfach Schattenseiten pfingstlerisch-charismatischer Spiritualität sind, auch wenn sie teilweise in anderen Frömmigkeitsrichtungen ebenfalls vorkommen. 

1. Eine Theologie der Verfügbarkeit Gottes

Du bist Gott, wir sind es nicht

Wir bauen uns Gebäude aus Gedanken, so hoch, dass sie den Himmel fast berührn. Kein Zweifel bringt sie allzu leicht zum Wanken, kein Einspruch darf den eignen Standpunkt störn. Wir hegen unsere festgefasste Meinung und pflegen gut durchdacht Theologie: Sie hat für alles, was Du tust, auch eine Deutung und ist sich sicher, Du enttäuscht uns nie.

Doch Du bist Gott, wir sind es nicht und Du verhüllst Dein Angesicht. Wir sehen nie das ganze Bild, nein nur durch einen Spiegel, der verklärt, nur wie durch einen Spiegel, der nicht alles erklärt. Herr, hilf uns, Dir trotz allem zu vertraun

Wir glauben fest, Du spielst mit offenen Karten, entschlüsseln mit der Bibel Deinen Plan. Wenn Du dann doch nicht tust, was wir von Dir erwarten, dann klagen wir Dich unverhohlen an. Zu denken, wir verstehn Dich, ist vermessen, es gibt für Dein Verhalten keinen Code. Wir sind nur einem Trugschluss aufgesessen, das lernen wir oft erst in Leid und Not.

Denn Du bist Gott …

Text: Arne Kopfermann © 2016 SCM Hänssler, Holzgerlingen

Evelyn Underhill hat den wunderbaren Satz geprägt: „Wenn Gott klein genug wäre, um ihn verstehen zu können, wäre er nicht groß genug, um ihn anzubeten.“ Gottes Wege sind und bleiben für uns unerforschlich. Wenn er uns seine Namen und Wesensart in der Geschichte des Volkes Israel und im Leben seines Sohnes Jesus hier auf Erden nicht vorgestellt hätte, wüssten wir noch nicht einmal, wie wir ihn ansprechen sollten. Aber in einer Kultur, in der das Erleben der Gegenwart Gottes, das Empfinden seiner Berührung und das Hören seiner Stimme einen hohen Stellenwert besitzt, hat sich vielerorts das Denken breitgemacht, Gott würde mit uns eine Partnerschaft eingehen, in der er uns seine Geheimnisse offenbart und sein Buch mit sieben Siegeln öffnet. Als wären aus der Geschichte seiner Jünger eindeutige Muster abzuleiten, wie wir zu beten und zu handeln haben, damit er uns erhört. Denn Gott folgt keinem einfachen Reiz-Reaktions-Schema, wie uns manche Aussagen der „Wort des Glaubens“-Bewegung nahelegen. Alle vereinfachten „Wenn-Dann…“, „Bete nur, so …“, „Glaube nur und …“ „Sprich in Existenz und es wird …“-Sätze, die aus biblischen Aussagen abgeleitet werden, greifen letztlich doch zu kurz, wenn sie die Souveränität und Unverfügbarkeit Gottes nicht einbeziehen. Stattdessen wird der Fehler entweder beim Unglauben oder mangelnden Vertrauen des Gläubigen gesucht oder gar behauptet, die Heilung, das Wunder, die Veränderung sei schon in Existenz, man könne sie nur äußerlich noch nicht sehen. 

Der Satz „Gott begegnet uns in Jesus auf Augenhöhe“ klingt wunderbar, kann aber auch irreführend sein. Denn Gott hat sich in Christus nicht nur zu uns herabgebeugt, sondern er ist nach seiner Auferstehung auch wieder zum Himmel aufgefahren. „Seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken und seine Wege sind nicht unsere Wege, sondern so viel höher, wie der Himmel über der Erde ist, so viel höher sind seine Gedanken als unsere Gedanken und seine Wege als unsere Wege“ (Jesaja 55, 8-9).

Die Hybris einer überbetonten Nahbarkeit Gottes ohne heilige Distanz führt nicht zuletzt auch zu einer charismatischen Anbetungskultur, in der oft unhinterfragt in denselben Superlativen von der eigenen Nachfolge gesungen wird wie von Gott selbst. Egal, was Gott mir gibt oder nimmt:  ich gebe alles für ihn, jederzeit, ganz und vollkommen, singe wie niemals zuvor, denn nichts ist so wichtig wie er. Die Vollmundigkeit dieser redundanten Sätze wird gerade dann oft zum Bumerang, wenn der eigene Glaube auf die Probe gestellt ist. Dann spüren wir oft schmerzhaft unsere eigene Wankelmütigkeit und Erlösungsbedürftigkeit und sehnen uns nach einem ehrlichen, tastenden, weniger vorlauten Ausdruck unserer Anbetung. Dann ist es für längere Lebensphasen wahrhaftiger, unsere irdische Schwachheit zu betonen, in der Gott aus Gnade wirkt, als ein sieghaftes Leben zu proklamieren, das von unserer Alltagserfahrung doch weit entfernt ist. Wir kommen im Verlauf eines Glaubenslebens nicht am Eingeständnis einer ambivalenten, dualistischen Realität vorbei. Denn wir leben im Spannungsfeld zwischen dem „schon jetzt“ und dem „noch nicht“. Zwischen „das Reich Gottes ist angebrochen“ und „der Himmel ist nicht hier“. Zwischen unserem geistlichen Idealismus und der Erkenntnis, dass unsere Nachfolge nicht schwarz-weiß ist, sondern oft genug in 256 Graustufen dazwischen stattfindet. Christus ähnlicher, reiner und heiliger zu werden, um mit ihm zu herrschen, wird in unserer Frömmigkeit sehr betont. Wir zerbrechen aber leicht an diesem Ideal, wenn wir die Menschwerdung Jesu außeracht lassen, der sich wieder und wieder in unsere Bedürftigkeit herabneigt. „Näher, mein Gott zu Dir“ lässt sich leicht mit erhobenen Händen beten. Was aber, wenn er uns antwortet: „Lass Dir an meiner Gnade genügen“? Einer meiner bekannteren Liedtexte lautet: „Herr, sprich lauter zu mir als der Lärm dieser Welt von Macht und Geld, als die Sicherheit von Raum und Zeit“. Aber mein Gebet ist lückenhaft, wenn ich nicht Manfred Siebalds Schlusszeile seines Liedes „Und wenn Gott schweigt“ einbeziehe: „Doch wenn Gott schweigt, hat er vielleicht auch nur in unser Leben so oft hineingesprochen, dass er nun erst wartet, dass wir endlich Antwort geben und dass wir seinen Willen tun.“

2. Die Einforderung einer Autoritätshörigkeit ohne offenen Umgang mit den eigenen Unzulänglichkeiten

Ein Verbund von charismatischen Gemeinden plant in einer großen Stadt eine Evangelisation an einem öffentlichen Ort, die Zehntausende Euro und ungezählte Stunden ehrenamtlicher Mitarbeit kostet. Aufgrund einer Vielzahl von Faktoren (Wetter, Zeitpunkt, konkurrierende Veranstaltungen, Art der Einladung, Modell der Evangelisationsmethode, Insidersprache, polarisierende Wahl des Predigers etc.) kommen jedoch viel weniger Besucher als erwartet, und die sind zumeist schon fromm („Preaching to the Choir“) – in den Wochen nach der Großveranstaltung tauchen folgerichtig nur eine Handvoll Kirchendistanzierte als Gäste in Gottesdiensten der beteiligten Gemeinden auf. Anstatt nun eine ehrliche Auswertung vorzunehmen und Für und Wider abzuwägen, wird die Veranstaltung zumindest in der Außendarstellung jedoch als großer Erfolg gefeiert. Dann kursieren Sätze wie „Halleluja! Wenn nur einer dem Reich Gottes hinzugetan wird, dann hat sich die Aktion schon gelohnt“ (ehrlich?) oder „die Evangelisation war so wichtig für die Einheit der Christen in der Stadt“ (wäre man nicht anders günstiger und besser zu dem Ziel gekommen?) oder „die Auswirkungen für die unsichtbare Welt über unserer Stadt waren gewaltig, und erst im Himmel werden wir erfahren, was in dieser Zeit alles passiert ist“. Wenn sich aber unsere Arbeit hier auf Erden nicht an konkreten quantitativen und qualitativen Zielen messen lässt und hinterfragt werden darf, gibt es keine objektiven Kriterien mehr. Dann kann jede Entscheidung der Gemeindeleitung als Plan Gottes ausgerufen und zur „selbsterfüllenden Prophetie“ werden.

Einige charismatische Pastoren sind nicht nur Alpha-Männchen, sondern haben einen mitunter recht gebieterischen Umgangsstil mit ihren Gemeindegliedern. Geboren aus einem apostolischen Selbstverständnis (Gott hat mich als Hirte mit besonderer Erkenntnis eingesetzt, um meinen Schäfchen den Weg zu weisen), wird Teamwork nicht sonderlich groß geschrieben, wohl aber Loyalität eingefordert. Ein fragwürdiges Konzept in einem demokratischen Land, das freie Wahlen, das Mehrheits- oder Konsensprinzip, Minderheitenschutz, die Akzeptanz einer politischen Opposition, Gewaltenteilung und Rede- und Meinungsfreiheit zu seinen Grundrechten zählt. 

Wenn hierarchische Autoritäts-Strukturen auf radikale Glaubenskonzepte treffen, wie das ja im Falle einer vorbehaltlosen Christusnachfolge systemimmanent ist, dann entsteht leicht eine Elfenbeinturm-Mentalität, in der die eigene Lehransicht aus der Bibel abzuleitender Wahrheit absolut gesetzt wird. Wenn nicht sein kann, was nicht sein darf, und Dinge, die in der sichtbaren Welt nicht zu sehen sind, in der unsichtbaren Welt beansprucht werden können, dann gibt es kein gemeinschaftliches Korrektiv mehr. Geistliche Leiter isolieren sich dann leicht, weil sie sich nur noch mit ihren „linientreuen Offizieren“ umgeben. Kritik und Hinterfragen von gemeindlichen Leitsätzen wird als Rebellion und mangelnde Unterordnung gebrandmarkt. Eigene Leitungsfehler einzugestehen und Ungereimtheiten zwischen Lehre und Alltagsrealität als solche zu benennen, bleibt dann aus, weil es die eigene Position der Stärke schwächen würde.  

Solche bestehenden Autoritätsstrukturen zu sprengen, geht oft nur in Form einer stillen oder öffentlichen Palastrevolution. In Falle von Gemeinden also durch stille Abwanderung Einzelner, Abspaltung ganzer Gruppen oder ausgewachsene Krisen mit Absetzung des Leiters. Dass sich in den letzten 30 Jahren so viele charismatische Gruppierungen oder Gemeinden gespalten haben, ist aus meiner Sicht eine fast logische Konsequenz der oben genannten Faktoren. Dies ist kein flammendes Plädoyer für Basisdemokratie in der Gemeinde. Aber für eine Dialogfähigkeit zwischen geistlicher Leiterschaft und Gemeindebasis, die nur dann gegeben ist, wenn das eigene Schrift- und Glaubensverständnis und die subjektiv als konkretes Reden Gottes empfundenen Leitsätze nicht so absolut gesetzt werden, dass sie nicht zumindest hinterfragt werden dürfen. 

3. Eine „Glaubenstheologie“, die oft zu einem unbarmherzigen Umgang mit Krankheit und Leiden führt

Das Dilemma absoluter theologischer Leitsätze offenbart sich immer dann, wenn die eigene Lebenserfahrung davon abweicht. Denn dann muss man zwangsläufig eine Entscheidung treffen. Entweder, die bisherige theologische Grundüberzeugung über den Haufen zu werfen. Oder aber die Richtigkeit der Überzeugung als in Stein gemeißelt wahrzunehmen und die Gründe für die Abweichung außerhalb von Gottes Absicht zu suchen. Um das einmal kurz am Beispiel weit verbreiteter charismatischer Heilungstheologie zu verdeutlichen: Sie geht davon aus, dass Jesus alle Menschen geheilt hat, die zu ihm kamen oder gebracht wurden (vielleicht mit Ausnahme von Markus 6,4-5: Jesus konnte in seiner Heimat Galiläa keine Wunder tun bis auf das Heilen einiger weniger). Und leitet daraus ab, dass er grundsätzlich auch heute jeden heilen will, der im Glauben zu ihm kommt und um körperliche oder psychische Heilung bittet. In der Zuspitzung einiger charismatischer Lehrsätze wird ein wahrhaft siegreiches christliches Leben sogar von materiellem Wohlstand und der Abwesenheit von Leid begleitet. Wenn dann Wohlstand oder Heilung trotz Gebet ausbleiben oder katastrophales, chronisches Leid in das Leben eines Christen tritt, müssen dafür zwangsläufig Erklärungsmuster gefunden werden. Die werden dann zumeist darin gesucht, dass der persönliche oder kollektive Glaube zu klein war oder persönliche oder kollektive Schuld oder gar Erbsünde das Eingreifen Gottes verhindert hat. Wenn man in diesem System verwurzelt ist, klingt das alles erst einmal in sich logisch. Bis es die eigene Familie oder das allerengste Umfeld betrifft.

„Die christliche Armee ist die einzige, die auf ihre Verwundeten noch schießt“, hat jemand einmal überspitzt formuliert! Denn dem Leidenden wird eine doppelte Last auferlegt. Er muss nicht nur lernen, sein an sich schon schweres Los zu tragen, sondern sich auch noch Herz und Hirn zermartern, warum Gottes Zusagen nicht bei ihm greifen. Warum „Gottes vollkommener Plan“ in seinem Leben nicht die verheißene Wirkung entfaltet und er keine Heilung erfährt. Und er soll sein Los auch noch mit Lobpreis und Gottvertrauen tragen und allen Zweifeln nur die Zusagen Gottes entgegenhalten, dann tut es nach „Wort des Glaubens“-Logik nur noch halb so weh. Zweifel und Klage, dringend erforderliche Bewältigungsmechanismen menschlicher Leiderfahrung, werden dann als Glaubensschwäche gebrandmarkt. Denn „wer zweifelt, gleicht ja den Wellen im Meer, die vom Sturm hin und her getrieben werden, ist in allem was er tut, unbeständig und hin- und hergerissen und kann nicht erwarten, dass der Herr ihm etwas gibt“ (Jak. 1,6-8). 65 von 150 Psalmen, die Klagepsalmen nämlich, werden lieber weggepackt, weil sie nicht zum erlösten Leben eines Gotteskindes passen. Und nicht wenige Fromme, ob Charismatiker oder nicht, glauben tatsächlich, dass jeder letztlich das bekommt, was er verdient. Dieser Satz ist in seiner Verallgemeinerung nicht nur dumm und unwahr; er verletzt leidende Menschen zutiefst. Denn er impliziert, dass Menschen, die weniger Leid erleben, es ja offensichtlich auch weniger verdient hätten. Jesus sagt aber in Matthäus 5, 45: „Der Vater im Himmel lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Womit er auch ausdrücken will, dass weder Segen ein Zeichen für Rechtschaffenheit ist noch Leid ein Indikator für Gericht. Einer der Gründe, warum die Bibel für mich so vertrauenswürdig ist, besteht gerade darin, dass sie negative Erfahrungen und Empfindungen nicht abblockt, sondern als Teil des Lebens beschreibt. Dort beklagen sich Vorbilder des Glaubens bei ihrem Schöpfer: „Du hast mich unfair behandelt!“ „Du hast dein Versprechen gebrochen und mich betrogen.“ „Du musst das wieder in Ordnung bringen, Gott!“ Er kann diese Klagen verkraften – viel mehr, als wir denken oder in unseren Versammlungen zulassen würden. 

Wir leben als Menschheit auf einem auf vielfältige Weise von Sünde und Zerbruch gezeichneten, erlösungsbedürftigen und vergänglichen Planeten. Wir leben als Christen in der Spannung, ihn einerseits erhalten zu wollen und andererseits hier doch nicht unsere bleibende Heimat zu haben. Und wir arbeiten uns unser ganzes geistliches Leben lang an dieser Spannung ab. Einige theologische Überzeugungen wollen diesen Prozess abkürzen und den Himmel auf Erden errichten – und tun das mit vollmundigen Worten. Aber wenn unsere Theologie der Realität des genannten Spannungsfeldes nicht gerecht wird, dann ist es angebracht, in Demut unsere Überzeugungen zu hinterfragen. Getreu dem jüdischen Motto: „Es kommt nicht darauf an, alle Antworten zu kennen. Es kommt darauf an, die richtigen Fragen zu stellen!“ 

4. Ein vielfach geschlossenes System mit für Außenstehende nur schwer verständlichem Sprachjargon

Ein Fachjargon ist an und für sich nichts Ungewöhnliches. Ärzte oder Apotheker verwenden ihn flüsternd mit hohem Lateinanteil, Juristen unter Zuhilfenahme eines Paragraphengewitters, Musiker und Veranstaltungstechniker führen „Neunzehnzoll-Gespräche“. Der Unterschied zur Gemeinde besteht jedoch darin, dass man bei Verwendung eines solchen Fachjargons unter seinesgleichen ist und gar nicht die Erwartung hat, dass Außenstehende dem Gespräch folgen können. In der frommen Welt ist das anders: alle Menschen sollen ja zur Erkenntnis der Wahrheit kommen! Wenn wir aber offen über das reden wollen, was das Fundament unseres Lebens ausmacht, werden unsere nachvollziehbaren oder befremdlichen Verhaltensweisen und unsere mangelnde oder ausgeprägte Verständlichkeit in der Sprache elementar. Als Bindeglied oder als Abgrenzung. Statistiken zeigen, dass eine Mehrzahl von Gemeindegängern nach einigen Jahren Zugehörigkeit kaum mehr nichtchristliche Freunde hat. Zu unterschiedlich sind die Interessen, Freizeitaktivitäten und Glaubenssätze, die sich auch in der Sprache bemerkbar machen. Wenn diese in Liedern und Predigten durchzogen ist von Begriffen wie Salbung, Vollmacht, Satan, Thron, Lamm und Löwe. Wenn ein blutgewaschenes Europa mit geistlicher Kampfführung aufgemischt wird und das Land siegreich im Gebet eingenommen wird, während für das Auge nicht sichtbaren Mächten öffentlich Einhalt geboten wird; wenn tanzende Geschwister im Herrn dazu goldbestickte Fahnen mit den genannten Symbolen schwingen, während andere ab und an einen sogenannten „Feuertunnel“ bilden (eine Reihe von jeweils zwei sich gegenüber stehenden Christen nebeneinander bilden dabei betend eine Art Spalier, durch das man ebenfalls betend durchläuft, damit der Heilige Geist in diesem Moment besonders stark wirken kann). Wenn es in Segnungszeiten ein Ziel ist, dass Menschen unter der Kraft des Geistes zu Boden sinken („Ruhen im Geist“) und manchmal bei standhaften Gesegneten auch leicht auf die Stirn drückend nachgeholfen wird, so dass die „Fänger“ dahinter nicht arbeitslos bleiben. Wenn Musiker improvisierend minutenlang verzückt über zwei Akkorden zwei Glaubensaussagen singen und diesen wenig kunstvollen und inspirierten Vorgang dann vollmundig prophetischen Lobpreis nennen. Wenn Lobpreisteams nicht proben, weil sie den Fluss des Geistes nicht durch menschliche Planung hindern wollen, und für das geschulte Ohr grottenfürchterlich klingen, weil nicht einmal die Instrumente gestimmt sind – dann ist das gelinde gesagt befremdlich, für viele Mitchristen schon, auf jeden Fall aber für Außenstehende! Ich bin, nachdem ich über vier Jahrzehnte Hunderte von charismatischen Veranstaltungen besucht oder musikalisch angeleitet habe, die Fülle erlebter Fremdschäm-Momente leid. 

Paulus spricht in 1. Kor 14 und 15 ausführlich über den Übersetzungsprozess, geistliche Wahrheiten für Außenstehende verständlich zu machen. Für mich ist 1. Kor 14, 19 dafür zu einem Schlüsselsatz geworden: „Ich will in der Gemeinde lieber fünf Worte reden mit meinem Verstand, damit ich auch andere unterweise, als zehntausend Worte in Zungen.“ Mit meiner Schilderung oben will ich auf gar keinen Fall ausdrücken, dass die für unsere Augen unsichtbare Welt Humbug ist. Ich glaube, sie ist sehr real. Aber wir leben in einer Nation, die längst dem christlichen Abendland entwachsen ist. Weniger als 5% der Bevölkerung besuchen noch regelmäßig einen Gottesdienst, und selbst die Kenntnis elementarster christlicher Grundlehren ist in unserem Land nicht mehr vorauszusetzen. Angesichts dessen macht es mich traurig zu sehen, wenn Gemeinden sich abkapseln, sich oft selbst genügen, sonderlich werden und eine Sprache pflegen, die dem Kirchendistanzierten nur wie ein böhmisches Dorf vorkommen kann. Wenn es keine missionarischen Veranstaltungen mehr gibt, weil Gott ja durch jeden Gottesdienst wirken kann, und Fromme oft gar nicht mehr mit Kollegen und Freunden über ihren Glauben reden oder solche Kontakte missionarisch instrumentalisieren, ohne eine echte Beziehung zu diesen Menschen, die Jesus brauchen, zu suchen. 

5. Eine Ethik der Ab- und Ausgrenzung

Im Verständnis Jesu besteht das höchste Gebot aus einem Vierklang der Liebe: zu Gott, meinem Nächsten, mir selbst und auch meinen Feinden. An dieser Liebe soll die Gemeinde Jesu erkannt werden. An verschwenderisch großzügiger Liebe. An diakonisch mildtätiger Liebe. An barmherzig annehmender Liebe. An aufopferungsvoll hingebender Liebe. Der größte Lackmus Test unserer Glaubwürdigkeit ist unsere Liebesfähigkeit. Als Einzelner und auch in der Gemeinde.

Aber Christen sind Überzeugungstäter und verstehen sich oft als Wahrer der reinen Lehre. Weil wir nicht an einem Joch mit den Ungläubigen ziehen sollen. Weil der Weg zum Verderben breit und zum Leben schmal ist. Und je mehr Verantwortung christliche Leiter tragen, desto schwerer scheint es ihnen zu fallen, über innere Kämpfe und Ungereimtheiten, Selbstzweifel, Charakterdefizite und Fehler im Umgang mit anderen Menschen zu sprechen. Je mehr sie eine repräsentative Rolle ausfüllen, desto aussichtsloser scheint es für sie zu werden, Leute in ihrem Umfeld zu finden, denen sie auch ihre zerbrechlichen Seiten anvertrauen können. Diese Tendenz, seine gute Seite herauszukehren und die schlechte unter den Teppich zu kehren, kann man natürlich nicht nur in frommen Kreisen beobachten. Sie ist dort vielleicht nur deswegen noch verbreiteter, weil Süchte, nicht gruppenkonforme Sexualethik und moralisches Fehlverhalten stärker sanktioniert werden als anderswo. Je stärker der Verhaltenskodex einer Gruppe ist, desto mehr wird er zum konstituierenden Merkmal. Selbst von Menschen, die früher eine offenherzigere und weniger reglementierende Prägung hatten.

Spätestens dann, wenn eine einschneidende Verlusterfahrung ins Leben tritt, lässt sich diese Fassade nicht mehr aufrechterhalten. Es würde einen Menschen sonst von innen zerreißen. Wenn eine Ehe zerrüttet ist, die Gemeindedoktrin aber Trennung und Ehescheidung verurteilt. Wenn in einer Gemeinde eine Pastorenfrau ihren Mann wegen eines anderen verlässt und er darauf hin vom Gemeinderat als Pastor abgesetzt wird, weil er sein Haus nicht in Ordnung halten konnte; er damit in einer der schwersten Zeiten seines Lebens damit nicht nur seinen Partner verliert, sondern auch noch die berufliche Tätigkeit, die er liebte und gleichzeitig noch vermeintliche Freunde. Wenn eine Person sich aus Suchtstrukturen oder Finanzproblemen ohne fremde Hilfe nicht lösen kann, aber Sanktionen der Gruppe fürchtet und sich durch ihr Schweigen selbst den Weg in die Freiheit verbaut. Oder wenn jemand durch den Verlust eines geliebten Menschen in seinen Grundfesten erschüttert wird, die Gemeindelinie aber vorgibt, dass Zweifel und Ringen, Klage und Traurigkeit Zeichen von Unglauben sind und nicht zum notwendigen und heilsamen Verarbeitungsprozess gehören. Verallgemeinert: Wenn Gewohnheit, Scham oder die Furcht vor der Einstellung anderer mich daran hindern, dass ich mit meinen Defiziten, Ungereimtheiten und Abgründen auch nach außen ich selbst sein darf, führt das zwangsläufig in eine ungesunde Isolation. Isolation von innen, aber auch Ausgrenzung derjenigen, die schon in eine Gemeinde gehen würden, wenn sie nicht wüssten, dass sie aufgrund ihres moralisch ethischen Lebensstils von vornherein zur persona non grata erklärt werden. Und das schreit zum Himmel!

Ich bin mehr denn je überzeugt davon, dass Jesus diese Isolation und Ausgrenzung nie vorgesehen hat. Er suchte Zeit seines Lebens hier auf Erden den direkten Kontakt mit Zöllnern (die für Habgier und Skrupellosigkeit standen) und Ehebrechern (deren sexuelle und beziehungsmäßigen Verfehlungen nicht in seinem Sinne waren) und begegnete ihnen mit Annahme, Freundlichkeit und dem Angebot der Veränderung. Er begegnete Armen, Aussätzigen und Kranken mit Empathie, Mitleid und Erbarmen. Er sah und erfüllte die seelischen und die körperlichen Bedürfnisse der Menschen. Er machte in seinem ersten dokumentierten Wunder auf einer Hochzeit Wasser zu Wein, nachdem die Gäste bereits gut angetrunken waren. Allen brachte er die Botschaft, dass wir schon hier auf Erden eine Beziehung zu Gott haben und nach dem Tod die Herrlichkeit des Himmels mit ihm erleben können. Vom Reich Gottes, das hier schon angebrochen ist, seine eigentliche Kraft aber erst im kommenden Friedensreich Gottes entfalten wird. Die einzige Personengruppe, die er aber scharf anging und verurteilte, war die der Pharisäer, der Religionshüter, die Rechtschaffenheit und strenge Verhaltensregeln vorgaben, aber hinter ihrer makellosen Fassade scheinheilige Heuchler waren, weil sie zutiefst selbstbezogen waren (ohne es zu merken) und das universale Gebot der Liebe verletzten. 

Ich habe den Artikel überschrieben mit den Worten „Warum ich kein Charismatiker mehr bin“. Deswegen möchte ich an das Ende stellen, was mir heilig ist. Ich glaube daran, dass Gott Menschen auch heute noch bis ins Körperliche hinein anrührt und übernatürlich wirkt. Ich glaube an einen trinitarischen Gott und damit auch an den heiligen Geist und seine Gaben. Ich glaube an von Herzen kommende Anbetung als Ausdruck eines lebendigen Glaubens. Ich glaube an die Kraft der Ortsgemeinde, die mit Wahrhaftigkeit und Leidenschaft Salz und Licht in diese Welt bringt. Ich glaube an den Wert einer Frömmigkeit, die Herz und Verstand vereint und nicht alles vergeistlicht, sondern Psychologie, Philosophie und Soziologie als Fingerzeige Gottes begreift, um mit großer Weite und ab und zu auch kritischer Distanz auf die fromme Welt zu schauen. Und ich glaube an einen souveränen, geheimnisvollen, für mich nicht verfügbaren Gott der Liebe und Barmherzigkeit, der über allem steht und dem ich entgegenstrebe.

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Arne Kopfermann, Jahrgang 1967, arbeitet freiberuflich als Musikproduzent, Songschreiber, Studiobetreiber, Buchautor, Referent und tourender Künstler. Mit seiner Frau Anja wohnt er im Vordertaunus. Der vorliegende Artikel enthält einige der Kerngedanken des Buches „Auf zu neuen Ufern – Befreit zu einem ehrlichen Glauben“, das im September 2020 bei Gerth Medien in Asslar erscheinen wird.